Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr die Bibel unsere Kultur beeinflußt hat. Sie bildet das Fundament für grundlegende Strukturen unserer Gesellschaft. Wir alle kennen zum Beispiel die zehn Gebote. Aus diesen Regeln für das menschliche Zusammenleben haben sich unsere komplexen Gesetzgebungen entwickelt. Die zehn Gebote heben sich besonders aus der Bibel heraus. Gleich an zwei Stellen werden sie Wort für Wort erwähnt. Sie sind sozusagen der Kern der biblischen Weisung.
Aber die Bibel gibt uns nicht nur zehn Gebote als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Im Alten Testament sind es insgesamt 613 Ge- und Verbote. In diesen Hunderten von Regeln werden viel mehr Bereiche des menschlichen Zusammenlebens ganz konkret angesprochen, als in den zehn Geboten abgedeckt ist.
Denn die Bibel ist realistisch. Gottes Wort appelliert nicht nur allgemein an den Menschen, das Gute zu tun, Gott zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Auch wenn das dann die Zusammenfassung aller Gebote ist. Die Bibel sieht das menschliche Dasein, wie es ist: nämlich immer wieder gefährdet vor allem durch Konflikte und Gewalt. In diesen Bereichen braucht es also konkrete Regeln, weil der Mensch nicht nur gut ist.
Deshalb gab es schon lange vor der Haager Landkriegsordnung am Ende des 19. Jahrhunderts in der Bibel klare Regeln für den Fall eines Krieges. Wir haben sie gerade gehört. Dabei ist der nüchterne Blick der Bibel auf die menschlichen Natur hilfreich. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir immer in Frieden miteinander leben.
Die menschliche Geschichte macht das leider sehr deutlich. Gottes Wort hilft uns dabei, dass nicht zu vergessen. Gleichzeitig hilft es uns aber vor allem, dabei nicht stehen zu bleiben. Die Kriegsregeln der Bibel sollen den Menschen helfen, sich nicht in der destruktiver Gewalt zu verlieren. Wenn es nämlich zu Gewalt und Krieg kommt, dann sollen wenigstens Regeln helfen. Ganz klar wird zum Beispiel gesagt, dass selbst im Fall eines Krieges die Lebensgrundlage der Menschen nicht völlig zerstört werden darf, weil es immer eine Zeit danach gibt. Eine Zeit des erneuten Friedens, vielleicht sogar der Versöhnung. Deshalb sollen bei der Belagerung einer Stadt ihre Obstbäume nicht abholzen werden, damit das Land nicht zur Wüste wird. Nach den Kriegsregeln der Bibel dürfte es deshalb eigentlich keine Atomwaffen oder andere Waffen geben, die das Leben nachhaltig zerstören. Leider haben wir uns als Menschen da in unserer Hybris schon lange von den biblischen Grundsätzen entfernt.
Nach christlichem Verständnis hat Jesus dann sogar ein neues Gebot der Liebe begründet, durch das alle bisherigen Regeln neu zu deuten sind. Nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn, soll mehr gelten, sondern liebt eure Feinde. Auf den ersten Blick klingt das offenbar viel zu weit von aller weltlichen Realität entfernt. Da scheint doch das Alte Testament mit seinen Kriegsgesetzen viel näher an der menschlichen Wirklichkeit.
Aber Jesus sagt selber, dass durch ihn das Gesetz nicht aufgehoben ist. Er will es nicht aufheben, sondern uns zu einem tieferen Verständnis verhelfen. Durch Jesus können wir die Gebote Gottes im Kontext seiner umfassenden Liebe zur gesamten Schöpfung, zu Freund und Feind neu verstehen.
Das scheinbare Paradox der Feindesliebe will uns zum Nachdenken helfen. Denn Gott kennt uns Menschen schließlich besser, als wir das oft selber vermögen. Jesus will uns nicht provokativ überfordern. Mich selbst zu lieben, bedeutet, mich als Menschen mit allen meinen Stärken aber vor allem auch meinen Schwächen anzunehmen. Wenn ich den Feind also wie mich selbst lieben soll, dann muss ich ihn ebenso als Menschen mit allen guten und bösen Eigenschaften sehen. Aber eben als Menschen und nicht als ein Haßobjekt, das ich verteufle.
Dieser Grundsatz der Feindesliebe ergänzt deshalb die Kriegsgesetze des Alten Testaments, ohne sie dabei eigentlich aufzuheben. Aber es ist eine wichtige Ergänzung, die überhaupt Frieden und Versöhnung nach einem Krieg wieder möglich macht: Wenn ich meinen Feind dabei nicht als Haßobjekt verteufle. Wir als Briten und Deutsche haben das gegen alle Propaganda der beiden Weltkriege Gott sei Dank gelernt. Wir können inzwischen gemeinsam unserer vielen Toten gedenken, dem schrecklichen Leid und Blutvergießen von zwei Weltkriegen.
Aber dabei dürfen wir heute nicht stehen bleiben, weil Krieg und Gewalt weiterhin unsere Welt plagen. Verteufelt eure Feinde nicht und macht sie nicht zu Haßobjekten, sondern seht in ihnen genauso die Menschen mit allen menschlichen Eigenschaften, guten und bösen. Egal, ob sie Deutsche oder Briten, Russen oder Ukrainer, Palästinenser oder Israelis sind.
Pastor Kai Thierbach
Sermon on Deuteronomy 20 / Cannock Chase 2023
I am always amazed at how much the Bible has influenced our culture. It forms the foundation for the basic structures of our society. We all know the Ten Commandments, for example. Our complex laws have developed from these rules for human coexistence. The Ten Commandments stand out particularly from the Bible. They are mentioned word for word in two places. They are, so to speak, the core of biblical instruction.
But the Bible does not just give us ten commandments as the basis for human coexistence. The Old Testament contains a total of 613 commandments and prohibitions. In these hundreds of rules, many more areas of human coexistence are addressed in concrete terms than are covered in the ten commandments. Because the Bible is realistic. God’s word not only makes a general appeal to people, to do good, to love God and our neighbour as ourselves. Even if that is the summary of all the commandments. The Bible sees human existence as it is: repeatedly jeopardised by conflict and violence. Concrete rules are therefore needed in these areas, because human beings are not only good.
That is why the Bible already had clear rules for the event of war long before the Hague Convention at the end of the 19th century. We have just heard some of them. The Bible’s sober view of human nature is helpful here. We cannot rely on always living in peace with one another.Unfortunately, human history makes this very clear.God’s word helps us not to forget this.
At the same time, however, it helps us above all not to stand still. The Bible’s rules of war are intended to help people not to lose themselves in destructive violence. When it comes to violence and war, at least there are rules to help. For example, it is clearly stated that even in the event of war, people’s livelihoods must not be completely destroyed because there is always a time afterwards. A time of renewed peace, perhaps even reconciliation. Therefore, when a city is besieged, its fruit trees should not be cut down so that the land does not become a desert where noone can live anymore. Actually according to the Bible’s rules of war, there should therefore be no nuclear weapons or other weapons that permanently destroy life. Unfortunately, in our hubris, we humans have long since departed from the biblical principles.
According to Christian understanding, Jesus even established a new commandment of love, through which all previous rules are to be reinterpreted. It is no longer an eye for an eye, a tooth for a tooth, but love your enemies. At first glance, this obviously sounds far too far removed from all worldly reality. The Old Testament with its laws of war seems much closer to human nature. But Jesus himself says that the law has not been abolished through him. He does not want to abolish it, but to help us gain a deeper understanding. Through Jesus, we can understand God’s commandments anew in the context of his comprehensive love for all of creation, for friend and foe.
The apparent paradox of loving our enemies is intended to help us reflect. After all, God knows us humans better than we are often able or willing to do ourselves. Jesus does not want to provocatively overtax us. Loving myself means accepting myself as a person with all my strengths and, above all, my weaknesses. So if I am to love my enemy as myself, then I must also see him as a human being with all his bad but also his good qualities. And above all as a human being and not as an object of hatred that I demonise.
This principle of loving your enemy therefore supplements the laws of war in the Old Testament without actually cancelling them. But it is an important addition that makes peace and reconciliation possible again after a war: If I do not demonise my enemy as an object of hatred. As British and Germans, we have thankfully learnt this against all the propaganda of the two world wars. We can now commemorate together our many dead, the terrible suffering and bloodshed of two world wars.
But we must not stop there today, because war and violence continue to plague our world. Do not demonise your enemies and do not turn them into objects of hatred, but see them as human beings with all human qualities, good and bad. No matter whether they are German or British, Russian or Ukrainian, Palestinian or Israeli.